Samstag, November 19, 2005

gastbeitrag - Das Neue, die Krise, die Chancen und ihre Liebhaber

Wer sind wir? Woher kommen wir? Wo wollen wir hin?
Fragen, die wir uns meistens dann stellen, wenn wir in eine Krise geraten.
Und wie kommt man aus der Krise wieder hinaus? Genau! Indem man die Krise als Chance betrachtet.

So gesehen leben wir in einer Gesellschaft, in der es viele, viele gut mit uns meinen. Wie das glauben Sie jetzt nicht? Doch, doch. Es gibt doch die Initiative für eine Neue Soziale Marktwirtschaft.

Hört sich gut an, nicht wahr? Neu, sozial, Marktwirtschaft. So richtig innovativ und dynamisch. Da geht es voran, da wird nach vorne geguckt, jawohl!

Und wie kommen wir nach vorn? Richtig, durch die Chancen, die wir nutzen. Da gibt es unzählige Möglichkeiten, die nicht beachtet werden. Tag für Tag. Deshalb gibt es jetzt auch die Kampagne ‘Du bist Deutschland’. Wir sind ein Wunder, wir sind der Einstein, wir sind auch der Beethoven.

Nur wie kommen wir dahin?

Das ist gar nicht so schwer!

Für die junge Generation gibt es ja schon ‘Deutschland sucht den Superstar’, die Stars selbst leben gerne im ‘Dschungelcamp’ und für den Rest gibt es wenig Arbeitsplätze. Das ist Abenteuer, das bringt den Kick , ich sage Ihnen, das ist der Thrill schlechthin. Wie Bungee-Springen.

Stellen Sie sich doch mal vor, wie die Leute leben, die keine Angst davor haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren! Die denken doch gar nicht mehr über ihr Leben nach. Das ist dann richtig langweilig. Wahrscheinlich haben die ein Haus, ein bis zwei Kinder und haben im Alter die Rente sicher. Jetzt mal im Ernst, das bedeutet in Wirklichkeit doch Stillstand. Also das Gegenteil von Fortschritt und Innovation.

Das bringt schließlich keinen weiter.

Und das gerade jetzt, wo Deutschland uns braucht!

Also, was tun?

Wir könnten ja mal die, von der Neuen Sozialen Marktwirtschaft fragen. Hab ich mal gemacht. Also nicht so direkt persönlich aber ich habe mir mal die Seite im Internet angeguckt. Und was glauben Sie, was ich gefunden habe.

Sehr interessant. Da gibt es ein kleines virtuelles Wirtschaftslexikon. Das müssen Sie sich mal ansehen. Das lohnt sich.

Zum Beispiel unter Lohnnebenkosten. Genau, darunter stöhnen ja alle, ob sie sich nun auskennen oder nicht.

Also was lesen wir da?

Zuerst einmal gibt es da einen bemerkenswerten Zusatz. Wenn man den Begriff aufruft, steht da ein Hinweis:

„Bitte lesen Sie nach unter Personalzusatzkosten.“

Habe ich dann gemacht. Ein Klick und dann kommt:

„Ausführliche Begriffsbeschreibung
Personalzusatzkosten/Lohnnebenkosten“

Mit Grafik sogar.

Also, worum geht’s?
Um den ersten und den zweiten Lohn. Wie, Sie bekommen nur einen? Ne, ne, da vertun sie sich. Das geht so:

„Zu den Personalzusatzkosten“ - also das sind eigentlich die Lohnnebenkosten - „zählen alle Aufwendungen der Arbeitgeber für die Mitarbeiter, sofern diese Aufwendungen nicht im direkten Zusammenhang mit der tatsächlich geleisteten Arbeit stehen. Deshalb werden die Personalzusatzkosten auch "der zweite Lohn" genannt. (...) Das Pendant zu den Personalzusatzkosten ist die rechnerische Größe "Entgelt für geleistete Arbeit", das so genannte Direktentgelt oder auch "der erste Lohn".“

Das versteht jedes Kind.

Dann wird aufgelistet:

„Die Zusatzkosten gliedern sich nach der amtlichen Arbeitskostenstatistik in vier Positionen.“ 1. ‘Die Vergütung arbeitsfreier Tage wie Entgeltfortzahlung bei Krankheit, an Feiertagen und im Urlaub und
2. Sonderzahlungen wie Leistungsprämien, Vermögenswirksame Leistungen, Weihnachtsgeld, zusätzliches Urlaubsgeld aufs Jahr gerechnet.
3. Sonstige Personalzusatzkosten wie Abfindungen, Kosten für Weiterbildung, Kantine, betrieblichen Kindergarten etc.
4. Kommen „obendrauf die Aufwendungen für Vorsorgeeinrichtungen wie die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung einschließlich Unfallversicherung, betriebliche Altersvorsorge“

Aber was wollen die uns damit sagen: Obendrauf kommen die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung?

Das klingt, als wollten sie das in Wirklichkeit gar nicht zahlen.

Stimmt auch. Denn zum Schluss steht da:

„Die Personalzusatzkostenquote betrug im Jahr 2004 in der westdeutschen Industrie 77,7 Prozent. Mit anderen Worten: Auf jeden Euro, den ein Arbeitnehmer an Lohn für tatsächlich geleistete Arbeit erhielt, mussten die Unternehmen noch einmal fast 78 Cent für soziale Extras drauflegen.“

Schauen Sie! Genau darin liegt die Lösung des Problems: die sozialen Extras werden abgeschafft, die Arbeitnehmer geraten in die Krise und die können sie dann wieder als Chance nutzen!

Die von der Neuen Sozialen Marktwirtschaft nennen ihre Website deshalb auch www.chancen-für-alle.de

Wie? Das ist dann so wie früher? Vor Karl Marx, Gewerkschaften und Bismarck?

Nun kommen Sie nicht schon wieder damit! Sie machen uns noch alle Chancen wieder kaputt! Sie erinnern sich doch noch: „Sozial ist, was Arbeit schafft!“

Das tönten die, die uns jetzt regieren. Ist aber nur geklaut. Kommt auch von denen.

Dann also los! Ran an den Speck und auf in die Krise. Damit Deutschland wieder eine Chance hat. Sie werden sehen:

Alles wird gut.

Ihr Kabarättchen